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SCHREIBEN

SCHREIBEN Helmut Lachenmann

Titel / Title: SCHREIBEN
Untertitel / Subtitle:
Ausgaben-Titel:
Kurzbesetzung: Orch
Besetzung (ausführlich): 3(3Picc.A-Fl.B-Fl).4.3.0 4.3.3.2 Schl(5) 2Klav Str: 8.8.8.8.8.8
Besetzung / Instrumentation:Orchester
Erscheinungsdatum / Date of Production: 2003/04
Dauer / Duration: 25'
Epoche: Musik (nach 1945) / Neue Musik (nach 2000)
Gattung:
Produkttyp / Product: Noten
Produkttyp / Product: Partitur
Ausgaben Besetzung:
Herausgeber:
Sprache / Language:
Bindung: Broschur
Format: 29,7 x 42 cm / 11.5 x 16.5 in

Uraufführung: Tokio/Japan, 4. Dezember 2003

Meine eigene neue Orchesterkomposition hat den Titel SCHREIBEN. Die praktische Aktion des Schreibens, als mechanisches Einwirken per Hand, Stift, Pinsel, auf eine Fläche (Papier, Pergament, Stein etc.), ausgelöst und gesteuert von einem kommunikativen Bedürfnis und, bei aller Spontaneität, beherrscht durch die Regeln von Schrift und Sprache, ist für mich einer der geheimnisvollsten Vorgänge im zwischenmenschlichen Alltag, bei dem menschlicher Geist und tote Materie einander begegnen: Gedanken bzw. Gedachtes werden auf einer Fläche - Papier, Pergament, Stein - festgehalten, ihr sozusagen anvertraut. Und auf diesem Umweg über Sprache, Schrift und Gravur begegnen sie dem Geist des lesenden oder entziffernden Mitmenschen. Als Komponist aber frage ich: gibt es auch einen anderen Kausalitätszusammenhang, gibt es z. B. ein autonomes Schreiben, eine sinn-freie Zeichengebung, durch entfesselte, losgelassene Fortbewegung der schreibenden Hand, wo der Schreibende seinem eigenen Schreiben nur noch staunend zusieht? Werden nicht in Japan Bilder, auch abstrakte, geschrieben??? (In einem Underground-Film der 70er-Jahre über den jungen Mozart sieht sich der Zuschauer versetzt in ein Zimmer eines italienischen Gasthauses, in dem der junge durchreisende Mozart am Tisch eilig die Rezitative einer seiner italienischen Opern zu Papier bringt. Mehr als eine Viertelstunde lang sind wir dabei, hören nicht die entstehende Musik, sondern das nervöse Kratzen der Feder auf dem groben Notenpapier in nachmittäglicher Stille - nur der gleichmäßige Pendelschlag der Wanduhr ist noch zu hören -, und wir erleben diese sekundäre Klangwelt kaum weniger intensiv als nachher andere Hörer die dabei stumm entstehende Musik.) Das Orchester in meinem Stück schreibt. Es fügt Strich zu Strich, versteht sich selbst als eine Art vielfältiges Schreib-Gerät. Wir als Hörer lesen nicht das Geschriebene, aber wir hören den Vorgang des Schreibens, den Bogenstrich, die Bewegung des scharrenden Holzstabs auf Fell oder Tamtam, und wir beobachten dessen Imitation bzw. Transformation durch - zeitweise auch tonlos - sich zu linearen Gestalten verbindende Blasinstrumente als eine Art klingender Schreib-Zeremonie. Es ergibt sich eine Musik, die gelegentlich ihren gedanklichen Ausgangspunkt vergisst und sich als autonome Klang-Situation fortentwickelt und verwandelt, und die schließlich im höchsten Register eine Art Kantilene be-schreibt. Wer das deutsche Wort Schreiben (engl. to write) schreibt, der schreibt dabei auch unweigerlich das Wort Schrei (engl. shout), und er schreibt auch das Wort reiben (engl. to rub). So emotional der erste Begriff gedacht werden kann, so nüchtern-praktisch ist der zweite. Von beiden Aspekten, samt ihrer Gegensätzlichkeit, ist mein Stück geprägt. (Helmut Lachenmann, 2003) Zusatz: Unmittelbar nach der wunderbaren Uraufführung des Stückes 2003 in der Suntory Hall, zusammen mit meinem Klavierkonzert Ausklang - liebevoll und konzentriert einstudiert und souverän gestaltet durch Maestro Kazuyoshi Akyama, dem das Werk gewidmet ist, und mit dem ich mich seit 40 Jahren in großer Bewunderung und Dankbarkeit verbunden fühle -, habe ich SCHREIBEN revidiert und um ca. 40 Takte erweitert. Und so kehrt es, nach vielen weiteren Aufführungen in Europa, endlich wieder an seinen Geburtsort zurück. (Helmut Lachenmann, 15. Juni 2012) CDs/DVD: SWR Sinfonieorchester Baden-Baden und Freiburg, Ltg. Sylvain Cambreling CD KAIROS 0013342KAI Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks, Ltg. Susanna Mälkki CD NEOS 11424 Orquesta Sinfónica de Musikene, San Sebastián, Ltg. Arturo Tamayo DVD Lachenmann-Perspektiven 7 (Breitkopf & Härtel, BHM 7817) Bibliografie: Hermann , Matthias: Kreativität und Struktur. Kompositorische Verfahren Neuer Musik zwischen 1977 und 2003, Saarbrücken: Pfau 2015 (dort S. 181-220) . Jahn , Hans-Peter: Schöne Stellen. Verwundungen in Lachenmanns jüngsten Werken, in: Musik inszeniert. Präsentation und Vermittlung zeitgenössischer Musik heute, hrsg. von Jörn Peter Hiekel (= Veröffentlichungen des Instituts für Neue Musik und Musikerziehung Darmstadt, Band 46), Mainz u. a.: Schott 2006, S. 59-72 . Linke , Cosima: Schreiben als Differenz von Stille und Klang. Aspekte der musikalischen Form in Helmut Lachenmanns Schreiben. Musik für Orchester, in: Zeitschrift der Gesellschaft für Musiktheorie 13 (2016), S. 117149. dies .: Konstellationen - Form in neuer Musik und ästhetische Erfahrung im Ausgang von Adorno. Eine musikphilosophische und analytische Untersuchung am Beispiel von Lachenmanns Schreiben. Musik für Orchester, Mainz: Schott 2018. Nonnenmann , Rainer: Schreiben ist Wirklichkeit. Gravuren des Realen in Lachenmanns Orchesterwerk Schreiben, in: Zurück zur Gegenwart? Weltbezüge in neuer Musik, hrsg. von Jörn Peter Hiekel (Veröffentlichungen des Instituts für Neue Musik und Musikerziehung Darmstadt 55), Mainz: Schott 2015, S. 138-158 .



Kurzbesetzung: Orch
Besetzung / Instrumentation:3.4.3.0. 4.3.3.2. Schl(5) 2 Klav Str
Schwerpunkt: Orchester
Besetzungsrubrik: Orchester
Besetzung Detail: Orchester
Epoche: Neue Musik (nach 1945) / Neue Musik (nach 2000)
Produktart: Noten
Ausgabe: Partitur
Format: 0 x 0 cm / 0 x 0 in
Uraufführung: Tokio, 4. Dezember 2003 (Tokyo Symphony Orchestra)Zur DVD mit Lachenmann-Interview, Teilproben und Aufführung
Meine eigene neue Orchesterkomposition hat den Titel SCHREIBEN. Die praktische Aktion des Schreibens, als mechanisches Einwirken per Hand, Stift, Pinsel, auf eine Fläche (Papier, Pergament, Stein etc.), ausgelöst und gesteuert von einem kommunikativen Bedürfnis und, bei aller Spontaneität, beherrscht durch die Regeln von Schrift und Sprache, ist für mich einer der geheimnisvollsten Vorgänge im zwischenmenschlichen Alltag, bei dem menschlicher Geist und tote Materie einander begegnen: Gedanken bzw. Gedachtes werden auf einer Fläche - Papier, Pergament, Stein - festgehalten, ihr sozusagen anvertraut. Und auf diesem Umweg über Sprache, Schrift und Gravur begegnen sie dem Geist des lesenden oder entziffernden Mitmenschen. Als Komponist aber frage ich: gibt es auch einen anderen Kausalitätszusammenhang, gibt es z. B. ein autonomes Schreiben, eine sinn-freie Zeichengebung, durch entfesselte, losgelassene Fortbewegung der schreibenden Hand, wo der Schreibende seinem eigenen Schreiben nur noch staunend zusieht?Werden nicht in Japan Bilder, auch abstrakte, geschrieben???(In einem Underground-Film der 70er-Jahre über den jungen Mozart sieht sich der Zuschauer versetzt in ein Zimmer eines italienischen Gasthauses, in dem der junge durchreisende Mozart am Tisch eilig die Rezitative einer seiner italienischen Opern zu Papier bringt. Mehr als eine Viertelstunde lang sind wir dabei, hören nicht die entstehende Musik, sondern das nervöse Kratzen der Feder auf dem groben Notenpapier in nachmittäglicher Stille - nur der gleichmäßige Pendelschlag der Wanduhr ist noch zu hören -, und wir erleben diese sekundäre Klangwelt kaum weniger intensiv als nachher andere Hörer die dabei stumm entstehende Musik.)Das Orchester in meinem Stück schreibt. Es fügt Strich zu Strich, versteht sich selbst als eine Art vielfältiges Schreib-Gerät. Wir als Hörer lesen nicht das Geschriebene, aber wir hören den Vorgang des Schreibens, den Bogenstrich, die Bewegung des scharrenden Holzstabs auf Fell oder Tamtam, und wir beobachten dessen Imitation bzw. Transformation durch - zeitweise auch tonlos - sich zu linearen Gestalten verbindende Blasinstrumente als eine Art klingender Schreib-Zeremonie. Es ergibt sich eine Musik, die gelegentlich ihren gedanklichen Ausgangspunkt vergisst und sich als autonome Klang-Situation fortentwickelt und verwandelt, und die schließlich im höchsten Register eine Art Kantilene be-schreibt.Wer das deutsche Wort Schreiben (engl. to write) schreibt, der schreibt dabei auch unweigerlich das Wort Schrei (engl. shout), und er schreibt auch das Wort reiben (engl. to rub). So emotional der erste Begriff gedacht werden kann, so nüchtern-praktisch ist der zweite. Von beiden Aspekten, samt ihrer Gegensätzlichkeit, ist mein Stück geprägt.(Helmut Lachenmann, 2003)Zusatz: Unmittelbar nach der wunderbaren Uraufführung des Stückes 2003 in der Suntory Hall, zusammen mit meinem Klavierkonzert Ausklang - liebevoll und konzentriert einstudiert und souverän gestaltet durch Maestro Kazuyoshi Akyama, dem das Werk gewidmet ist, und mit dem ich mich seit 40 Jahren in großer Bewunderung und Dankbarkeit verbunden fühle -, habe ich SCHREIBEN revidiert und um ca. 40 Takte erweitert. Und so kehrt es, nach vielen weiteren Aufführungen in Europa, endlich wieder an seinen Geburtsort zurück.(Helmut Lachenmann, 15. Juni 2012)CDs/DVD:SWR Sinfonieorchester Baden-Baden und Freiburg, Ltg. Sylvain CambrelingCD KAIROS 0013342KAISymphonieorchester des Bayerischen Rundfunks, Ltg. Susanna MälkkiCD NEOS 11424Orquesta Sinfónica de Musikene, San Sebastián, Ltg. Arturo Tamayo DVD Lachenmann-Perspektiven 7 (Breitkopf & Härtel, BHM 7817) Bibliografie:Hermann, Matthias: Kreativität und Struktur. Kompositorische Verfahren Neuer Musik zwischen 1977 und 2003, Saarbrücken: Pfau 2015 (dort S. 181-220).Jahn, Hans-Peter: Schöne Stellen. Verwundungen in Lachenmanns jüngsten Werken, in: Musik inszeniert. Präsentation und Vermittlung zeitgenössischer Musik heute, hrsg. von Jörn Peter Hiekel (= Veröffentlichungen des Instituts für Neue Musik und Musikerziehung Darmstadt, Band 46), Mainz u. a.: Schott 2006, S. 59-72.Linke, Cosima: Schreiben als Differenz von Stille und Klang. Aspekte der musikalischen Form in Helmut Lachenmanns Schreiben. Musik für Orchester, in: Zeitschrift der Gesellschaft für Musiktheorie 13 (2016), S. 117149.dies.: Konstellationen - Form in neuer Musik und ästhetische Erfahrung im Ausgang von Adorno. Eine musikphilosophische und analytische Untersuchung am Beispiel von Lachenmanns Schreiben. Musik für Orchester, Mainz: Schott 2018.Nonnenmann, Rainer: Schreiben ist Wirklichkeit. Gravuren des Realen in Lachenmanns Orchesterwerk Schreiben, in: Zurück zur Gegenwart? Weltbezüge in neuer Musik, hrsg. von Jörn Peter Hiekel (Veröffentlichungen des Instituts für Neue Musik und Musikerziehung Darmstadt 55), Mainz: Schott 2015, S. 138-158.
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Product information
Order id: 878869
Difficulty: -
Duration: 25' min
Pages: 108
publisher id: Breitkopf PB 5435
EAN: 9790004212820
Composer: Helmut Lachenmann
Arranger: -
Publisher: Breitkopf & Härtel KG
Instrumentation: Kammermusik / Ensemble

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